Ob Al-Quds-Tag in Berlin, BDS-Beschluss im Bundestag oder die Israelsolidarität der AfD: Der Israel-Palästinakonflikt ist fester Bestandteil deutscher Politik. Daniel Marwecki spricht für dis:orient mit David Ranan, um die jüngsten Debatten etwas zu sortieren.
David Ranan ist ein israelischer Politik- und
Kulturwissenschaftler und freier Autor mit deutsch-jüdischen Wurzeln.
2018 veröffentlichte er sein Buch „Muslimischer Antisemitismus: eine
Gefahr für den gesellschaftlichen Frieden in Deutschland?“.
dis:orient:
Gerade befinden wir uns in London, wo Sie leben. Seit einigen Jahren
haben wir hier, neben der Brexit-Frage, eine riesige Debatte über
Antisemitismus in der Labour Partei unter Parteichef Jeremy Corbyn. Was
ist ihre Einschätzung zu dieser Debatte — vielleicht auch im Vergleich
zu ähnlichen Debatten in Deutschland?
David Ranan: Man muss
sich einer Sache bewusst sein. Corbyn ist ein extrem linker Parteichef.
Er repräsentiert sicher nicht die Labour Party, wie sie viele Jahre
zuvor beschaffen war. In England vermischt sich, wahrscheinlich wie in
Deutschland, bei einigen extrem Linken der Anti-Imperialismus, der
Anti-Kolonialismus und das menschenrechtliche Gefühl für die
Palästinenser, die sie zum Anti-Zionismus bringen, mit alten
antisemitischen Vorurteilen. Diese Vorurteile sind ein Geschenk von
hunderten Jahren Kirche…It’s in the back of everyone’s mind.
So wie ich das sehe hat Corbyn den großen
Fehler gemacht, dass er nicht sofort verstanden hat, dass
antisemitische Äußerungen inakzeptabel sind. Die hätte er sofort, um ein
schönes deutsches Wort zu verwenden, ausmerzen sollen. Und das hat er
nicht getan, und je länger er es nicht getan hatte, desto schwerer wurde
es für ihn, von diesem Baum herunterzuklettern. Es ist nicht gut, was
sich da tut. Ich glaube aber auch, dass der Antisemitismus in der Partei
zu einem Kampfthema wurde, hochgeschraubt von den Gegnern Corbyns, um
ihn zu bekämpfen.
Wenden wir uns nun Deutschland zu.
Dort haben Sie letztes Jahr ein Buch zum Thema „Muslimischer
Antisemitismus“ verfasst. Der Untertitel: „eine Gefahr für den gesellschaftlichen
Frieden in Deutschland?“. Meine erste Frage zu dem Buch und seinem
Titel ist: Sie suggerieren, dass es eine spezifisch „muslimische“
Variante des Antisemitismus gibt. Was darf ich mir denn darunter
vorstellen?
Ich hatte zu diesem Thema zuvor ein
Seminar an der Universität angeboten. Mein Seminar nannte ich
“Muslimischer? Antisemitismus?”. Was ich mit dieser Wortwahl zum
Ausdruck bringen wollte ist: Sind die Phänomene, die wir beobachten,
überhaupt “muslimisch”? Und handelt es sich dabei stets um
Antisemitismus? Nun
wollte mein Verlag keine zwei Fragezeichen im Titel. Ich wollte diese
Frage des sogenannten “Muslimischen Antisemitismus” untersuchen, nicht
schon im vornherein behaupten.
Es gibt seit vielen Jahren schon diese
Behauptung, dass es unter Muslimen mehr Antisemitismus gäbe als unter
nicht-Muslimen. Es ist also kein neues Thema. Ich wollte hören, was
Muslime sagen, wenn sie über Juden reden. Ich wollte Narrative
kennenlernen. Was wir über die Medien hören, ist ja meistens das, was
die Extremisten von sich geben. Wir sehen Videos von Hasspredigern, die
die allerschlimmsten Sachen über Juden sagen, wir sehen hormongeladene
14-Jährige auf Demonstrationen, die rufen “Kindermörder Israel” oder
“Juden ins Gas”. Dann gibt es eine große Empörung und die ganze Nation
regt sich unisono auf, vom Kleinstadt-Partei-Bezirksvorsteher bis zur
Bundeskanzlerin. Ich
wollte aber nicht hören, was die Extremisten sagen, sondern ich wollte
wissen: was wird abseits des Lärms gesagt? Ich wollte das Thema besser
verstehen.
Ich habe eine qualitative Studie
durchgeführt, für die ich über 70 Interviews geführt habe, mit
Studierenden und Graduierten. Ich habe festgestellt: In der Tat gibt es
auch unter gebildeten Muslimen [in Deutschland] die ganze Bandbreite von
Vorurteilen über Juden und Verschwörungstheorien über Juden.
Aber klar waren auch zwei Dinge — und das
gilt natürlich nur für die Interviews die ich geführt habe, das ist
keine allgemeine Aussage. Erstens:
keiner meiner Interviewpartner, auch wenn sie sehr gläubig waren,
wusste überhaupt, was im Koran über Juden steht. Das Ganze hat mit
Religion überhaupt nichts zu tun! Es
wird ja gern aus dem Koran zitiert, um den Antisemitismus unter
Muslimen zu beweisen. Das machen Extremisten auf beiden Seiten.
Extremisten sind zwar laut, aber in der Minderheit.
Zweitens, und auch das wer sehr klar, bei
all meinen Interviewpartnern, und ich habe Interviews gemacht mit
Muslimen aus arabischen wie auch nichtarabischen Ländern, bei allen
waren die Einstellungen zu Juden eng mit dem Nahostkonflikt verbunden.
Vorurteile über Juden wurden mit Beispielen aus dem Nahen Osten
unterfüttert, nach dem Motto: “Nur weil die Juden so viel Macht haben,
kann sich Israel alles erlauben.”
Auch in Berlin hat sich vor Kurzem der
Nahostkonflikt mit der Antisemitismusdebatte in Deutschland auf einige
Weisen verknüpft. Zum Anlass des „Al-Quds Tag” rief der bundesdeutsche
Antisemitismusbeauftragte Felix Klein nichtjüdische Deutsche dazu auf,
als Zeichen der Solidarität mit Juden eine Kippa zu tragen. Halten Sie
derartige Aktionen für ein sinnvolles Zeichen der Solidarität?
Zuerst zu Herrn Klein: der Bundesbeauftragte hat in einer Woche drei verschiedene Sachen gesagt.
Zuerst meinte er, dass Juden überlegen sollten, ob sie mit einer Kippa
auf die Straße gehen wollen. Dafür wurde er dann von Einigen aus der
jüdischen Gemeinde kritisiert. Danach hat er Deutsche dazu aufgerufen,
am Tag der Al-Quds Demonstration zur pro-israelischen Gegendemonstration
zu gehen. Und er hat Deutsche dazu aufgerufen, auf dieser Demonstration
die Kippa zu tragen.
Die Frage ist: brauchen wir deutsche
Beamten, die einem sagen, ob man eine Kippa tragen soll oder nicht? Es
ist unmöglich, zumindest nach meinem Verständnis davon, was ein
Regierungsbeamter darf, dass er aufruft, zu irgendeiner Demonstration zu
gehen. Das geht überhaupt nicht. Aber auf die Frage, ob man jetzt als
Nichtjude eine Kippa tragen soll oder nicht, natürlich, wenn jemand das
Bedürfnis hat das zu machen soll er’s machen, ich weiß nicht ob es etwas
bringt.
Damit komme ich zu meinem Hauptpunkt: Das
ganze Kippa-Thema wird aufgebauscht. Wie viele Juden gehen in
Deutschland mit einer Kippa auf die Straße und werden deswegen
beleidigt? Und wie viele muslimische Frauen gehen auf die Straße mit
einem Kopftuch und werden beleidigt? Ist die Lösung dafür jetzt, dass
alle nichtmuslimischen Frauen aus Solidarität ein Kopftuch tragen?
Bleiben wir bei der Frage deutscher Solidarität für seine ehemaligen Opfer: Für Deutschland
ist die außenpolitische Solidarität mit Israel mehr als nur reines
„Interesse“: sie gehört zum Selbstverständnis der Republik nach dem
Holocaust. In den letzten Jahren können wir aber beobachten, dass
ausgerechnet die AfD, die Alternative für Deutschland, sich am stärksten pro-israelisch positioniert. Gleichzeitig ist die Partei in Richtung Faschismus und Antisemitismus offen. Was hat es ihrer Meinung nach mit diesem Doppelspiel auf sich?
Erstens: Sie wissen ja selber, dass es mit der
Frage des deutschen ‘Selbstverständnis’ nicht so einfach ist. Wenn man
genau hinschaut, dann hat sich dieses solidarische Selbstverständnis vor
allem nach 1967 gebildet, als Israel zeigte, wie gut es kämpfen kann.
Die große Attraktion war Moshe Dayan [Anm: berühmter israelischer
General, der damals von der Springerpresse mit dem „Wüstenfuchs“ Erwin Rommel verglichen wurde].
Das war das attraktive Israel. Nun ist es schon so, dass heute die
Solidarität mit Israel zum politischen Selbstverständnis gehört. Dabei
gibt es aber meiner Meinung nach keinen Zweifel über die immer größere
Kluft zwischen der Einstellung der offiziellen Politik und den
Hauptmedien im Land und der Bevölkerung vis à vis Israel. Diese
solidarische Einstellung gegenüber Israel wird ‘vom Mann auf der Straße’
nicht geteilt.
Um zweitens auf die AfD zu kommen: Was Sie
beschrieben haben ist genau richtig. Ob die AfD sich mit ihrer
pro-Israel Attitüde von der Vergangenheit distanzieren will, weiß ich
aber nicht. Sie wandelt auf einem sehr schmalen Grat. Sie kann ja nicht
all ihre antisemitischen Wähler brüskieren. Da müssen die vorsichtig
sein. Sie macht eine Akrobatik, die ganz gezielt ihrem Zweck dient,
anti-muslimisch zu sein. Die AfD will keine muslimische Einwanderung
haben und dazu werden Juden und Israel instrumentalisiert. Das ist der
einzige Grund, weswegen sie pro-Israel und pro-jüdisch ist. Juden werden
als anti-muslimische Waffen benutzt.
Der Bundestag hat jüngst die BDS-Bewegung
gegen Israel deutlich verurteilt, sie quasi mit Antisemitismus
gleichgesetzt. Nun gibt es vermutlich wenige Palästinenser, die den
gewaltfreien Boykott von Israel vollkommen ablehnen. Gleichzeitig
arbeiten deutsche politische Stiftungen und
Entwicklungshilfeorganisationen in den besetzten palästinensischen
Gebieten eng mit Palästinensern zusammen. Wie passt das ihrer Meinung
nach zusammen? Oder ist die deutsche Politik gegenüber Israel und den
Palästinensern widersprüchlich?
Die BDS-Entscheidung ist das Resultat einer
Gruppe halbgebildeter deutscher Politiker, deren eigene
Schuldbearbeitung sie dazu bringt, solche Entscheidungen durchs
Parlament zu schieben. Das geht natürlich nicht zusammen mit dem Wunsch,
mit der palästinensischen Zivilgesellschaft zusammen zu arbeiten.
Sie sagen mit Recht, dass es sicher sehr wenige
Palästinenser gibt, die nicht pro-BDS sind. Dabei muss es einem klar
sein, und man muss davor auch nicht solche Angst haben, ich gehe davon
aus dass jeder Palästinenser, wenn er die Wahl hätte, lieber eine Welt
hätte, ohne dass es einen jüdischen Staat im Nahen Osten gäbe. Genauso
wie die meisten Israelis es sich wünschen würden, dass es keine
Palästinenser da gäbe. Das macht beide Gruppen doch noch nicht zu potentiellen Vernichtern.
Schauen Sie, nicht nur bin ich Israeli, ich bin
dankbar dafür, dass es Israel gibt. Das Existenzrecht Israels ist für
mich keine Frage. Aber ein Palästinenser hat da eine andere Meinung. Und
ich kann mit ihm befreundet sein, auch wenn er eine andere Meinung hat.
Das muss man verstehen. Und man kann nicht durch die Lupe der eigenen
Vergangenheit und durch die Lupe der eigenen anti-jüdischen Vorurteile
und Ressentiments eine andere Gruppe beurteilen. Den Anderen [Anm.: den
Palästinenser*innen] hat man ihr Land weggenommen. Die Anderen sind
Flüchtlinge geworden, wegen der Existenz des jüdischen Staates. Ich sage damit nicht, dass es keinen jüdischen Staat geben soll, ich sage damit
nicht einmal, dass es moralisch falsch war, den jüdischen Staat zu
gründen. Ich finde der Entschluss damals für den jüdischen Staat ist der
moralisch richtige Entschluss. Aber jetzt sollen die Palästinenser das
Ganze auch noch gutheißen?
Als der Bundestag seine Resolution zur
BDS-Bewegung beschloss, habe ich in meinem Blog an Angela Merkel eine
Frage gerichtet: Wenn Frau Merkel im Supermarkt steht und eine Flasche
Wein vom Regal nimmt und sieht, dass die Flasche in einer israelischen
Siedlung produziert wurde — tut Sie die Flasche zurück und nimmt einen
anderen Wein, oder nimmt Sie den Wein?
Ich würde glauben, dass Sie den Wein zurücktut,
aber ich würde auch glauben, dass Sie das nie zugeben würde, wenn ein
Journalist ihr eine solche Frage stellen würde. Ich glaube, ihre
Wertvorstellungen lassen nicht zu, dass man die Siedlungen unterstützt.
Mein Punkt ist: der ganze Diskurs zum Thema Israel in Deutschland ist
ritualisiert. Er ist unecht. Und unechte Kommunikation stagniert. Sie
schadet. So kann man keine Beziehung haben. Man kann auch in keiner
privaten Beziehung nur mit Phrasen leben.